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Bonuskapitel - "Der Code des Bösen"


Der Angeklagte

Ärzte, Psychotherapeuten oder – wie wir in dem Kapitel „Puppenspieler“ meines Buches Der Code des Bösen sehen – manchmal auch Casting-Agenten kommen ihren Klienten schon von Berufs wegen recht nahe. Wenn es sich bei den Klienten um Klientinnen handelt und die betreffenden Herren eine überdurchschnittliche Schwäche für das weibliche Geschlecht haben, kann so viel Nähe leicht zu zwischenmenschlichen Verwicklungen führen. Ärzte oder Therapeuten, die ihre Patientinnen wie erotisches Freiwild behandeln, verstoßen damit zweifellos gegen den Kodex ihrer Standesorganisationen. Gleichwohl kommen solche Schurkereien weit häufiger vor, als die wohlmeinende Allgemeinheit annimmt. Aktenkundig werden derlei Verstöße selten – und wenn der Schürzenjäger keinen Arztkittel trägt, sondern die Gloriole eines zweit- oder drittklassigen TV-Prominenten, dann bricht er mit seinen Schurkereien zwar Herzen, aber nicht einmal Standesregeln. Und Strafgesetze erst recht nicht – denn unsere Strafkammern haben aus guten Gründen nicht über Moral und Fantasien zu urteilen, sondern über tatsächlich verübte Verbrechen gegen Leib, Leben und Besitztum.

Ein solcher Herzensbrecher mit schillernder TV-Aura war der Casting-Agent Tom Bornholm, und zwischen seinem Fall und der „Causa Kachelmann“, die große Teile der deutschen Öffentlichkeit seit März 2010 in Atem hält, gibt es einige unübersehbare Parallelen.

  • Wettermoderator Jörg Kachelmann gehörte ebenso wie Casting- Agent Tom Bornholm der schönen bunten Fernsehwelt an. Bis zu seiner Festnahme war er selbst häufig vor den Kameras zu sehen, spielte jedoch – wie Bornholm – auch hinter den Kulissen eine gewichtige Rolle: als Gründer, Miteigner und Geschäftsführer der Wetterfirma „Meteomedia“. Beide Männer kannten also die Mechanismen der Traumfabrik Fernsehen aus dem Effeff.

  • Kachelmanns Erfolg als Wettermoderator hatte weniger mit der Treffsicherheit seiner meteorologischen Vorhersagen als mit seinem persönlichen Stil zu tun: Temperatur- und Niederschlagsprognosen trug er so feinfühlig vor, als deute er nicht Wetterkarten, sondern Seelenlandschaften aus. Insbesondere das weibliche Publikum fühlte sich angesprochen.

  • Seine Tätigkeit als Wettermoderator, der live mal von einem Alpengipfel, dann wieder von der Ostseeküste berichtete, verlieh Kachelmann die ungreifbare Allgegenwart von Ariel, dem mythischen Luftgeist – und entzog ihn praktischerweise der Kontrolle seitens seiner Geliebten. Ebenso wie Bornholm war auch er von Berufs wegen ständig auf Achse, tauchte auf und verschwand wieder, wie es ihm gerade gefiel.

  • Als professioneller „Luftikus“ hatte auch Kachelmann mehrere Geliebte, denen er jeweils vorspielte, dass sie die einzige Frau in seinem Leben seien. Und so wie Tina Nußbaum ihrem ungetreuen Tom eines Tages auf die Schliche kam, so wurde auch einer von Kachelmanns Geliebten schließlich klar, dass er sie nach Strich und Faden betrog. Auch diese Frau – in den Medien „Simone“ genannt – erstattete Anzeige gegen den Mann, der sie in moralischer Hinsicht zweifellos missbraucht hatte: Sie behauptete, er habe sie mit einem Küchenmesser bedroht und vergewaltigt, nachdem sie ihn zur Rede gestellt hatte.

 

Das mutmaßliche Opfer

Doch damit sind die Parallelen zwischen den Fällen Kachelmann und Bornholm noch keineswegs erschöpft: Beide Frauen lebten zumindest teilweise in Fantasiewelten, in denen sie selbst und ihre Liebhaber eher Figuren aus TV-Seifenopern als realen Personen ähnelten. „Simone“ gehörte als lokale Radiomoderatorin auch ihrerseits der Medienwelt an, wenn auch sozusagen nur der Regionalliga. Und Tina Nußbaum hoffte, mit Bornholms Hilfe gleichfalls den Sprung auf die Bühne einer Fernsehshow zu schaffen. Beide Frauen waren also nicht allein und nicht einmal vorwiegend ihren realen Liebhabern „verfallen“ – sondern hauptsächlich deren Aura als TV-Eminenzen.

Entsprechend schwer fiel es anscheinend beiden Frauen, stets zwischen Fantasie und Wirklichkeit, Eingebildetem und tatsächlich Erlebtem zu unterscheiden. Beide führten Tagebücher, in denen ihre Gedanken und Fantasien mehr oder weniger ausschließlich um den Geliebten und die eigene Abhängigkeit kreisten.

So kann es kaum verwundern, dass „Simone“ genauso wie Tina Nußbaum eine ausgeprägte Vorliebe für triviale Lovestorys an den Tag legte. Frau Nußbaum war eine eifrige Leserin von Groschenromanen und Yellow-Press-Schmonzetten – jedenfalls legt ihr eigener klischeehafter Stil als Verfasserin „therapeutischer Fiktionen“ diese Annahme nahe. Sehr ähnlich scheint Kachelmanns Geliebte „Simone“ nach der Daily-Soap „Verbotene Liebe“ nahezu süchtig gewesen zu sein. Unter dem Pseudonym „Christina Brandner“, einem Namen aus ihrer Lieblingsserie, fahndete sie via Facebook nach weiteren Geliebten des ungetreuen Wetterfroschs. Auch die Einwände etlicher Gutachter, die im Auftrag der Verteidigung die Glaubwürdigkeit des angeblichen Opfers untersuchten, deuten in diese Richtung: Demnach hat sich „Simone“ bei der Schilderung der angeblichen Vergewaltigung einer schwülstigen Sprache bedient, die sich von ihrem eigenen Duktus abhebt und eher der synthetischen Welt von „Verbotene Liebe“ zu entstammen scheint.

 

Die Sachverständigen

Doch gerade über diese so ungemein wichtige Frage nach der sprachlichen Authentizität konnte man bei Redaktionsschluss meines Buches Der Code des Bösen, Mitte Dezember 2010, nur Spekulationen anstellen – obwohl die Verhaftung des Wettermannes bereits mehr als acht Monate zurücklag. Denn Staatsanwaltschaft und Verteidigung hatten im Fall Kachelmann zwar die rekordverdächtige Zahl von insgesamt neun Gutachtern aufgeboten; doch hierbei handelte es sich überwiegend um psychologische Sachverständige. Wie im Fall Bornholm wurde es zumindest bislang unterlassen, neben psychologisch-medizinischen auch sprachanalytische Beweise zu sichern. Ein schwer begreifliches Versäumnis, da mit der Psychologie-Professorin Luise Greuel und dem Rechtsmediziner Professor Bernd Brinkmann gleich zwei erstrangige Kapazitäten zu dem Schluss gekommen sind, dass „Simones“ Schilderungen der angeblichen Vergewaltigung nicht einmal bescheidene Anforderungen an Glaubwürdigkeit und Konsistenz erfüllen.

Eine weitere traurige Parallele zwischen beiden Verfahren mag man schließlich darin sehen, dass sich der Justizapparat hier wie dort nicht gerade in vorbildlicher Verfassung präsentiert. Medien und Fachleute beklagen auch bei der Causa Kachelmann einen unsäglichen „Juristen-Filz“, der die Wahrheitsfindung zu Lasten des Angeklagten erschwert.

 

Die Rechtsanwälte

Mit meisten deutschen Rechtsanwälten habe ich vermutlich schon zusammengearbeitet. So auch mit Reinhold Birkenstock, einem Kölner Wirtschaftsjuristen mit bis zum Kachelmann-Prozess eher geringer Medienerfahrung. Er rief mich erstmals im Sommer 1988 wegen eines Sprachgutachtens an. Es ging um den Fall Hans Werner Reisig. Als Eröffnung unseres Telefongesprächs brachte er eine interessante Variante:

„Herr Dr. Drommel, Sie wissen ja, dass alle Rechtsanwälte lügen …“ (Pause)

Nun ja, wusste ich eigentlich in dieser Absolutheit nicht.

„Aber“, fuhr er fort, „ich sag jetzt mal ausnahmsweise die Wahrheit(…)“

Lügen, bis der (Nerven-)Arzt kommt? Ironie des Schicksals: 21 Jahre später sollte das Thema Wahrheit bei Birkenstocks vielleicht spektakulärstem Fall ebenfalls eine entscheidende Rolle spielen. Ende November 2010 feuerte Kachelmann jedoch seine bisherigen Verteidiger – ein spektakulärer Schritt, den Prozessbeobachter allerdings seit Längerem erwarteten. Insbesondere Rechtsanwalt Reinhard Birkenstock wirkte von Anfang an deutlich zu defensiv und im Prozessverlauf zunehmend überfordert. An seiner Stelle verpflichtete der bedrängte Wetterfrosch den Strafverteidiger Johann Schwenn – einen ausgebufften Prominentenanwalt, der bereits DDR-Chefspion Markus Wolf und den Doping-verdächtigen Turbo-Radler Jan Ullrich vor Gericht vertreten hatte.

Strafverteidiger Schwenn feuert seither eine Breitseite nach der anderen gegen die Staatsanwaltschaft, ihre Zeugen und Gutachter ab. So erklärte er die Psychologieprofessorin Luise Greuel für befangen und fachlich überfordert. Überdies verkündete er, die gegen seinen Klienten aufgebotenen Zeuginnen seien von den Medien gekauft. Auch gegen die Burda-Presse („Bunte“, „Focus“), die für ihn offenbar wie ein medialer „Puppenspieler“ munter im Verfahren gegen Kachelmann mitmischt, richtete Schwenn scharfe Attacken: Bei der Vernehmung der diversen Ex-Geliebten des Ex-Moderators sei die Öffentlichkeit nur deshalb ausgeschlossen worden, weil die aussagenden „Lausemädchen“ – ein Bezeichnung, die von Kachelamann stammen soll –lukrative Exklusivverträge mit dem Hause Burda abgeschlossen hätten.

Vorläufiger Höhepunkt der Schwenn’schen Winteroffensive: Der Haudegen in Anwaltsrobe erklärte die Staatsanwälte zu „Tatverdächtigen“. Die Anklagevertreter seien „um einiges verdächtiger als Herr Kachelmann“, da sie Ergebnisse ihrer Ermittlungen an die Presse weitergegeben hätten. Das Gericht forderte er auf, die Handakten der Staatsanwälte zu beschlagnahmen, um Aufschluss über deren „Telefonate mit möglichen Zeuginnen“ zu erhalten.

 

Strafprozess(un)recht?

Kaum weniger inszeniert als die Provokationen des Routiniers Schwenn wirken die Auftritte der Nebenklägerin „Simone“. Als sie vor Gericht erschien, um die angebliche Vergewaltigung zu schildern, hielt sie ein Buch mit dem Titel „Der Soziopath von nebenan“ in die Kameras. Solcherlei theatralische Gesten könnten selbst unvoreingenommene Beobachtern den Eindruck erwecken, dass auch „Simone“ von „Puppenspielern“ gesteuert wird – eine weitere Parallele zur Causa Bornholm/Nußbaum.

Doch damit noch immer nicht genug der Gemeinsamkeiten. Johann Schwenn ist nicht nur der vorläufig letzte Rechtsanwalt des zum Frosch entzauberten Ex-Wetterprinzen – er war auch der erste Rechtsbeistand, dem Bornholm seine Verteidigung anvertraute. Aber der Casting-Agent entzog ihm schon bald wieder sein Vertrauen: Schwenn hat sich laut Bornholm seinem eigenen Mandanten gegenüber unerträglich arrogant betragen und ihn nur bruchstückhaft über neu gewonnene Erkenntnisse und seine Verteidigungsstrategie informiert. Überdies argwöhnte Bornholm, der in Hamburg ansässige Schwenn sei selbst in das „norddeutsche Juristen-Netzwerk“ verstrickt, das seine Verurteilung frühzeitig beschlossen habe.

Die aus meiner Sicht fatalste Parallele zwischen beiden Prozessen ist jedoch die sprachkriminalistische Unbedarftheit der jeweils zuständigen Strafverfolgungsbehörden. Ebenso wie bei der Causa Bornholm hätten Polizei und Staatsanwaltschaft auch vor Kachelmanns Verhaftung, spätestens aber unmittelbar im Anschluss erst einmal diese grundlegende Frage prüfen müssen: Passen die anfänglichen Aussagen von „Simone“ bei Polizei und Staatsanwaltschaft ohne Einschränkung zu ihrem Individualstil?

Dieser Individualstil der Nebenklägerin im Kachelmann-Prozess kann bestimmt werden durch Analysen ihrer

  • Moderationsbeiträge im Radio, sofern aufgezeichnet,
  • Chat- oder Forenbeiträge, „Facebook“-Äußerungen usw.,
  • E-Mails und Briefe sowie
  • Tagebuchaufzeichnungen.

Dabei ist auch ihre persönliche sprachliche Variationsbreite zu erfassen: die Unterschiede zwischen mündlichem und schriftlichem Sprachstil, zwischen Texten, die in Eile oder mit Distanz, bei Ruhe oder in Aufregung angefertigt wurden. Ferner muss bei den vergleichenden Analysen berücksichtigt werden, dass eine (einmalige) Vergewaltigung eine Extremerfahrung darstellt, die das Opfer niemals vorher erlebt hat. Wenn es über dieses Ereignis berichtet, so wird sich seine Sprech- oder Schreibdisposition normalerweise radikal von jeder anderen Disposition unterscheiden, in der es sich jemals vorher sprachlich geäußert hat.

Die eilfertig von einigen Journalisten aufgestellte (und in unzähligen Medien blind wiederholte) Behauptung, „Simone“ habe einfach eine Vergewaltigungs-Story aus ihrer Lieblingsserie „Verbotene Liebe“ für ihre Anzeige abgekupfert, hat sich als haltlos herausgestellt. Gleichwohl steht auch im Fall Kachelmann die Frage im Raum, die sich im Fall Bornholm/Nußbaum als Dreh- und Angelpunkt erwiesen hat: Passen die Schilderungen der angeblichen Vergewaltigung vielleicht deshalb nicht zum individuellen Sprachstil der angeblich Geschädigten, weil sie nicht aus deren eigenem Erleben geschöpft sind, sondern aus einschlägigen Fiktionen wie Fernsehserien oder Liebesromanen?

Anlass zu diesem Verdacht hat „Simone“ auch insofern gegeben, als sich zumindest die von ihr zunächst geschilderte Vorgeschichte der angeblichen Vergewaltigung als Lüge herausgestellt hat. Anfangs behauptete sie nämlich, durch ein anonymes Schreiben von Kachelmanns Untreue erfahren zu haben. Dieser Brief habe zwei Flugtickets enthalten, die auf den Namen des Wettermanns und einer anderen Frau ausgestellt waren. Im Begleitschreiben habe der Satz gestanden: „Er schläft mit ihr.“ Erst nach wochenlangem Leugnen räumte „Simone“ ein, dass sie diesen Satz selbst geschrieben hatte. Hat sie möglicherweise die gesamte anonyme Sendung – mitsamt den Tickets – selbst fabriziert?
Ein erfahrener sprachkriminalistischer Gutachter kann diese Fragen zweifelsfrei beantworten – und wenn seine Antwort ein klares Ja ist, dann kann es auch im Fall Kachelmann nur ein Urteil geben: Freispruch für den Angeklagten. Ein Wettermoderator darf meteorologische Satellitenbilder wie Seelengemälde ausdeuten. Die Richter der Mannheimer Strafkammer aber haben einzig und allein über die Frage zu befinden, ob der Angeklagte im Sinn des Strafgesetzbuchs schuldig geworden ist.

Ferndiagnostisch ließ sich – erst recht im Dezember letzten Jahres – nicht klären, ob Kachelmann ein kaltblütiger Vergewaltiger, eine Art „spätpubertierender Hallodri“ oder schlichtweg ein Opfer der Nebenklägerin ist. Dass er „Der Soziopath von nebenan“ ist, darf jedoch bezweifelt werden.